EuGH entscheidet im Abgasskandal – Millionen von Verbrauchern könnte Schadensersatz zustehen
Mit ihrer Entscheidung vom 21. März räumten die Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH) die bisher größte Hürde für die verbraucherseitige Rechtsdurchsetzung im Abgasskandal aus dem Weg. Anders als seitens deutscher Gerichte bisher angenommen, kann nun nämlich bereits durch den fahrlässigen Verstoß gegen europäische Emissionsvorschriften ein Schadensersatzanspruch begründet werden. Der – aufgrund fehlender Information oft nur schwer nachzuweisende – Vorsatz der Autobauer in Bezug auf das Unterlaufen von Abgasnormen ist nun also nicht mehr notwendig.
Das Urteil gilt in der Rechtsbranche schon jetzt als Meilenstein und könnte eine erneute Klagewelle innerhalb des Dieselskandals zur Folge haben.
Europäische Vorschriften zu Übereinstimmungsbescheinigungen schützen Verbraucher
Kernaussage der Entscheidung – welche auf ein Vorlageersuchen des Landgerichts (LG) Ravensburg zurückgeht – war, dass die Vorschriften über sogenannte Übereinstimmungsbescheinigungen auch dazu dienen den einzelnen Verbraucher zu schützen. Aus dieser Einordnung als “Schutzgesetz” folgt nach deutschem Recht, dass bereits fahrlässige Verstöße gegen diese Vorschriften eine Schadensersatzpflicht auslösen können.
Übereinstimmungsbescheinigungen werden jedem (Neu-)Fahrzeugkäufer beim Kauf ausgehändigt und bestätigen, dass das entsprechende Fahrzeug mit den Vorschriften des europäischen Rechts hinsichtlich der Fahrzeugemissionen im Einklang steht.
Bisher galten hohe Hürden für die Durchsetzung von Ansprüchen
Die Einordnung als Schutzgesetz und deren Folgen machen das Urteil des EuGH für betroffene Verbraucher und in den Abgasskandal involvierte Kanzleien zur Sensation.
Bisher galt nämlich stets, dass ein Schadensersatzanspruch im Rahmen des Abgasskandals eine “sittenwidrige Schädigung” voraussetzt. Eine solche konnte seitens der Verbraucher beziehungsweise deren Vertretern jedoch oft kaum belegt werden. Voraussetzung wäre, dass nicht nur das Vorhandensein einer illegalen Abschalteinrichtung nachgewiesen wird, sondern auch, dass der Hersteller um die Illegalität wusste und diese sowie deren Folgen in Kauf nahm.
Da entsprechenden Informationen über die Autohersteller beziehungsweise deren Führungspersonal kaum beizukommen war, verliefen viele Klagen im Abgasskandal letztlich im Sand und das obwohl oft belegt werden konnte, dass das jeweilige Fahrzeug eine illegale Abschalteinrichtung enthielt.
Bereits der Nachweis von Fahrlässigkeit genügt
Gerade diese Hürde fällt nun jedoch deutlich geringer aus. Bei Verletzung eines Schutzgesetzes reicht es nach der deutschen Gesetzgebung nämlich bereits aus, dass der Autohersteller die Verletzung fahrlässig begangen hat. Dies ist schon dann der Fall, wenn dieser hätte wissen können, dass die von ihm verwendete Abschalteinrichtung gegen geltendes Recht verstößt.
Notwendig ist daher für den Verbraucher nur der Nachweis der Illegalität der verwendeten Abschalteinrichtung sowie in der Regel des Bestehens alternativer, legaler technischer Möglichkeiten.
Dass legale, alternative Möglichkeiten bestanden und den Autobauern bekannt waren, lässt sich in vielen Fällen schon dadurch nachweisen, dass diese in Ländern mit vermeintlich strengeren Vorschriften oft selbst bessere Abgasreinigungssysteme verwendeten. Die Chancen betroffener Verbraucher auf Rechtsdurchsetzung dürften sich daher deutlich verbessert haben.
Deutsche Bundesrichter verneinten Schutzgesetzqualität
Der Bundesgerichtshof (BGH) und der weit überwiegende Teil der deutschen Gerichte haben eine Einordnung der europäischen Vorschriften als Schutzgesetz bisher stets verneint. Nach diesen war es vielmehr alleiniges Ziel der Vorschriften, einen möglichst reibungslos funktionierenden Binnenmarkt zu gewährleisten sowie die Emissionen von Fahrzeugen zu verringern und hiermit die Umwelt zu schützen sowie die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern.
Die obersten Bundesrichter hielten dies gar für so offenkundig, dass diese eine Vorlage an den EuGH trotz mehrmaliger Anträge seitens der Verbraucheranwälte verneinten. Dass letzterer nun doch noch zu Wort kam, liegt an einer entsprechenden Vorlage des Landgerichts Ravensburg, welches die Rechtsauffassung des immerhin zwei Instanzen höher gelegenen BGH zurecht nicht zu überzeugen schien.
Da dem LG ein Verfahren vorlag, für welches die Beantwortung der Vorlagefrage von entscheidender Bedeutung war, setzte dieses den Rechtsstreit bereits im Februar 2021 aus und wandte sich an den EuGH, welcher nun dem BGH entschieden entgegentrat.
Besonders prekär erscheint vor diesem Hintergrund, dass der BGH sowie auch allen anderen deutschen Gerichten eigentlich eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH zukommt, wenn diese Zweifel an der Auslegung oder Reichweite europäischen Rechts haben.
Zusammenfassung
Das Urteil des EuGH löst eines der dringendsten Probleme im Hinblick auf die Durchsetzung von Verbraucheransprüchen im Abgasskandal. National dürfte dies eine Vielzahl erneuter Klagen zur Folge haben. Eine Ablehnung von Ansprüchen betroffener Fahrzeughalter ist nur noch schwer zu begründen.
Der VSVBB begrüßt die eindeutige und verbraucherfreundliche Positionierung des EuGH, auch wenn diese für Verbraucher, welche bereits rechtskräftig vor Gericht unterlagen zu spät kommen dürfte.